Interview mit Eva Ponce (MIT) über Omnichannel-Lieferketten

08 Jan 2025
Eva Ponce, Leiterin der Online-Ausbildung im Massachusetts Institute of Technology (MIT CTL)

„Technologie und Automatisierung werden eine zentrale Rolle in Omnichannel-Lieferketten spielen“

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Über die Expertin

Über die Expertin Dr. Eva Ponce ist Leiterin der Online-Ausbildung im Center for Transportation & Logistics des Massachusetts Institute of Technology (MIT CTL). Sie leitet das MITx MicroMasters Program in Lieferkettenmanagement, das bereits Zehntausende von Studenten aus mehr als 190 Ländern ausgebildet hat. Außerdem leitet sie das Omnichannel Supply Chain Lab des MIT. Dieses Labor widmet sich der Forschung in den Bereichen E-Commerce, Omnichannel-Strategien und nachhaltige Lieferketten. Dr. Ponce verfügt über 25 Jahre Lehr- und Forschungserfahrung und wurde für ihre bedeutenden Innovationen und Verbesserungen der MIT-Ausbildung mit dem Irwin Sizer Award ausgezeichnet. Außerdem ist sie Mitglied des Beirats des Management and Leadership Program der Harvard Extension School.

Eva Ponce, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Omnichannel Supply Chain Lab am MIT CTL, gibt Einblicke in die Entwicklung des Omnichannel-Erlebnisses, die Auswirkungen künstlicher Intelligenz und neuer Technologien auf die Logistik und den E-Commerce.

  • Wie entwickelt sich das Omnichannel-Kundenerlebnis?

    Das Omnichannel-Erlebnis verändert sich aufgrund neuer Trends im Verbraucherverhalten und in der Nachfrage beträchtlich. Rund 70 % der Einkäufe werden heute online getätigt, wobei die Nutzer Geräte wie Smartphones, Tablets und Laptops verwenden, um nach Produkten zu suchen. Die Kunden werden zunehmend anspruchsvoller. So erwarten zum Beispiel 70 % der Käufer, dass sie ihre Bestellung noch am selben oder nächsten Tag erhalten.

    Trotz dieses Trends werden in den USA immer noch 85 % der Einkäufe in Ladengeschäften getätigt, obwohl 40 % der Kunden ihre Suche online beginnen. Viele Verbraucher schätzen die Flexibilität bei der Abholung von Waren, z. B. die Lieferung nach Hause, Click and Collect oder Drive – die Produkte werden mit minimaler Interaktion zum Fahrzeug des Kunden gebracht. Ein weiteres aufstrebendes Geschäftsmodell sind Showrooms. Dabei handelt es sich um Räume, in denen Kunden Produkte im Geschäft ausprobieren und online kaufen können.

    Die KI wird eine transformative Komponente für die Zukunft des E-Commerce sein

    Auch die technologischen Fortschritte spielen beim Omnichannel-Erlebnis eine wichtige Rolle. Unternehmen wie Adidas und Nike setzen in ihren Geschäften Strategien wie „endlose Gänge“ ein. Dabei handelt es sich um interaktive Displays, mit denen die Kunden die Produkte bequemer erkunden und kaufen können. Einzelhändler machen sich diese Technologie zunutze, um ihren Bestand in Logistikzentren zu zeigen und den Kunden so die Möglichkeit zu geben, auch nicht im Geschäft erhältliche Artikel zu kaufen. Letzte Weihnachten kombinierten 85 % der US-Käufer bei ihren Einkäufen Online- und Offline-Kanäle, was den Aufstieg des Omnichannel-Konsumenten bestätigt.

  • Digitale Technologien sorgen für verfügbare Bestände und genaue Bestandsinformationen
    „Digitale Technologien gewährleisten die Verfügbarkeit der Bestände und liefern genaue Bestandsinformationen“

    Wie kann die künstliche Intelligenz den Omnichannel-Einzelhandel auf die nächste Stufe heben?

    Unternehmen können die künstliche Intelligenz (KI) in vielerlei Hinsicht nutzen. In einer kürzlich von meinem Labor durchgeführten Umfrage zum Thema Omnichannel haben wir festgestellt, dass rund 70 % der Unternehmen die Nachfrageprognose als einen der Bereiche ansehen, in denen sich der Einsatz von KI am stärksten auswirken wird. Warum? Mit dieser Technologie können sie Echtzeitdaten, wie Wettermuster oder regionale Verbrauchsgewohnheiten, mit historischen Trends kombinieren, um die Genauigkeit ihrer Prognosen zu verbessern.

    Zahlreiche Unternehmen setzen auch auf die KI, um das Kundenerlebnis zu verbessern und individuellere Dienstleistungen und Marketingkampagnen anzubieten. In einem fortgeschritteneren Stadium wird die KI in der Bestandsverwaltung eingesetzt, indem die Bestandssysteme mit der Nachfrageprognose verbunden werden, um so eine höhere Genauigkeit zu erreichen. Unternehmen nutzen KI auch zur Optimierung des Transports, der Personalverwaltung und des Lagermanagements. Diese Bereiche werden in einem Umfeld des schnellen und ständigen Wandels immer wichtiger.

  • Welche Rolle spielen die digitalen Technologien bei der Sicherstellung der Verfügbarkeit der Bestände in den verschiedenen Lagern und Geschäften?

    Digitale Technologien gewährleisten die Verfügbarkeit der Bestände und liefern genaue Bestandsinformationen. Instrumente wie die Radiofrequenz-Identifikation (RFID) bieten Unternehmen eine durchgängige Sichtbarkeit und erleichtern die Rückverfolgung von Produkten – nicht nur in den Geschäften, sondern in der gesamten Lieferkette. Diese Technologien helfen den Unternehmen bei der genaueren Bestandsverwaltung an der Verkaufsstelle, wo die Einhaltung der Genauigkeit oft problematisch sein kann.

  • Welche Strategien können die Herausforderungen der Bestandsverteilung in einer Omnichannel-Umgebung meistern?

    Für Omnichannel-Einzelhändler ist es eine komplexe Aufgabe, zu entscheiden, wo sie ihre Artikel lagern, Bestellungen ausführen und Lieferungen verwalten sollen. Diese Herausforderung kann durch die Wahl des am besten geeigneten Lagertyps und des optimalen Automatisierungsgrads bewältigt werden. Einige Unternehmen setzen auf hochautomatisierte Lager, die ausschließlich für Online-Bestellungen bestimmt sind, um eine effizientere Abwicklung zu gewährleisten. Andere Unternehmen wenden sich Micro-Fulfillment-Lagern zu. Dabei handelt es sich um kleinere, automatisierte Anlagen, die häufig in Geschäften untergebracht sind. Diese Lager bringen die Bestände näher an die Kunden heran und ermöglichen Lieferungen am selben Tag oder sogar innerhalb von zwei Stunden.

    Eva Ponce unterstreicht die Bedeutung von automatischen Lagersystemen im Omnichannel-Bereich

    Einzelhändler können auch dynamische Nachschubsysteme zum Abgleich der Lagerbestände mit Echtzeit-Verkaufsdaten einsetzen und so die Lagerverwaltung verbessern. Darüber hinaus sollten die Inventursysteme regelmäßig überprüft werden, da Änderungen im Verbraucherverhalten oft häufige Anpassungen des Lagers erfordern – sei es vierteljährlich, monatlich oder wöchentlich.

  • Wie können sich Lager an die Komplexität der Auftragsabwicklung in einer Omnichannel-Umgebung anpassen?

    Technologie und Automatisierung werden eine zentrale Rolle in Omnichannel-Lieferketten spielen. Zu den aufkommenden Lösungen gehören automatisierte Lagersysteme wie Regalbediengeräte, autonome mobile Roboter (AMR), Kommissionierroboter, Be- und Entladeroboter und Drohnen für die Bestandsüberwachung in Lagern. Mit diesen Technologien können Unternehmen die Schwierigkeiten der Auftragsabwicklung in einer Omnichannel-Umgebung leichter überwinden.

    Die Rolle der Lagerverwaltungssysteme ist für die reibungslose Koordinierung der Informationsflüsse ebenfalls entscheidend. Die Integration von Automatisierung, fortschrittlicher Technologie und robusten digitalen Systemen ist für die erfolgreiche Bewältigung der Komplexität der Omnichannel-Logistik unerlässlich.

  • Die Nutzung von Automatisierung und Technologie in modernen Lagern wird in den kommenden Jahren zunehmen
    „Wir werden in den nächsten 5 bis 10 Jahren einen verstärkten Einsatz von Automatisierung und Technologie erleben – vor allem in modernen Lagern“

    Welche neuen Technologien werden die Zukunft des E-Commerce verändern?

    Die KI wird zweifellos eine transformative Komponente für die Zukunft des E-Commerce sein. Dadurch können Unternehmen ihren Kunden ein individuelleres Erlebnis bieten und gleichzeitig ihre Abläufe durch die Integration von Systemen wie Bestandsmanagement, Nachfrageprognose und Transport optimieren.

    Neben der künstlichen Intelligenz werden auch Automatisierung und Robotik den E-Commerce neu definieren. Autonome mobile Roboter – auch solche, die als Dienstleistung angeboten werden – steigern nicht nur die Produktivität und Effizienz, sondern bieten auch die für den Erfolg im E-Commerce und in Omnichannel-Umgebungen erforderliche Flexibilität. Es wird erwartet, dass diese neuen Technologien in den kommenden Jahren erheblich wachsen werden.

  • Welche Veränderungen können wir in der Logistik des E-Commerce im nächsten Jahrzehnt erwarten?

    Wir werden in den nächsten 5 bis 10 Jahren einen verstärkten Einsatz von Automatisierung und Technologie erleben – vor allem in modernen Lagern. Die Lagerung ist einer der am stärksten von der Ausweitung des E-Commerce betroffenen und veränderten Bereiche der Lieferkette. Technologien wie KI werden bei der Bewältigung der Komplexität und der Rationalisierung der Abläufe eine zentrale Rolle spielen. Unternehmen, die automatisierte Systeme, wie Lagerlösungen, autonome Roboter, Cobots und Lagerverwaltungssoftware, erfolgreich mit KI-Tools integrieren, werden in Zukunft größere Chancen haben.

    Meiner Meinung nach werden wir im nächsten Jahrzehnt auch einen Wandel in der Belegschaft erleben. Die Schulung und Umschulung der Beschäftigten wird im Zuge der Anpassung der Unternehmen an die neuen Technologien eine Priorität werden. Die Unternehmen müssen diese Umstellung im Auge behalten. Nur so können sie sicherstellen, dass ihre Beschäftigten diese fortschrittlichen Instrumente optimal nutzen und ihr Potenzial voll ausschöpfen. Die Entwicklung der Belegschaft wird in den kommenden Jahren eine der wichtigsten Veränderungen sein.

    Eine weitere vielversprechende Veränderung wird die Interaktion zwischen Mensch und Maschine sein. Die Einführung neuer Technologien und die Automatisierung werden bei der Bewältigung der zunehmenden Komplexität von Omnichannel-Lieferketten an Bedeutung gewinnen. Für diese Entwicklung muss die Belegschaft so geschult werden, dass sie das Beste aus beiden Welten nutzen kann: menschliche und maschinelle Fähigkeiten.