KI in der Logistik der letzten Meile: Innovation im Routen- und Liefermanagement

20 Sep 2024
Winkenbach ist der Meinung, dass der Zugang zu Auslieferungen am selben Tag erleichtert werden müsse

ANALYSE IM DETAIL
Von Matthias Winkenbach

Die Routenplanung spielt in der Logistik und im Güterverkehr eine entscheidende Rolle: Sie kann über Erfolg oder Misserfolg bei der Lieferung von Waren entscheiden. Aus diesem Grund ist sie eines der am meisten untersuchten Themen in diesem Bereich im letzten Jahrhundert gewesen. Obwohl sie so stark in den Vordergrund des öffentlichen Interesses gerückt ist, konnte noch keine optimale Effizienz beim Routenmanagement und der Logistik der letzten Meile erreicht werden. Die neuesten technologischen Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens könnten die fehlenden Teile dieses Puzzles sein.

Im Mittelpunkt der Routenplanung steht das Traveling Salesman Problem, das sogenannte Problem des Handlungsreisenden. Akademiker haben sich seit dem frühen 19. Jahrhundert damit beschäftigt. Das Vehicle-Routing-Problem (VRP) bzw. das Standardproblem der Tourenplanung, mit dem man sich heute in der Logistik befasst, wurde jedoch 1959 von George Dantzig und John Ramser formell eingeführt. Seitdem haben Forscher unzählige Variationen und Erweiterungen des VRP analysiert, mit dem Ziel, eine Vielzahl von Problemen lösen zu können. Heute gibt es sehr effektive Algorithmen und Modelle, mit denen die Komplexität der realen Welt weitestgehend dargestellt werden kann. Industrie und Wissenschaft sind der Bewältigung moderner VRP-Probleme viel nähergekommen als Dantzig und Ramser, die sich vor 65 Jahren diesem Thema widmeten. Mit den bestehenden methodischen Ansätzen sind wir jedoch erst zu 80 % auf dem Weg zur Lösung der Probleme. In einer Welt, in der die Menschen noch nicht online einkauften und schnelle und flexible Transportmöglichkeiten nicht so entscheidend für die Erfüllung der Verbraucherbedürfnisse waren, stellten die verbleibenden 20 % keinen ausschlaggebenden Faktor dar. Dennoch sind die Erwartungen in den letzten Jahren stark gestiegen. Die Kunden verlangen eine Geschwindigkeit und Individualisierung in einem bis dato unbekannten Ausmaß. Plötzlich sind die 20 %, die mit traditionellen Methoden nicht erreicht werden konnten, aufgrund der heute geforderten reaktionsschnellen Logistikdienstleistungen von großer Bedeutung.

Die großen Transporter, die wir auf der Straße sehen, legen in der Regel etwa 120 Stopps pro Tag ein

Die großen Lkw, die wir auf der Straße sehen, haben in der Regel etwa 120 Stopps pro Tag

Die Zunahme an fragmentierten und eingeschränkten Routen steigert die Komplexität der Logistik auf der letzten Meile. Im Gegensatz zu einem Pendler, der einfach die kürzeste oder bequemste Route zwischen Punkt A und Punkt B sucht, muss der Lieferwagen eines Unternehmens wie Amazon oder UPS mehrere Lieferungen auf einer einzigen konsolidierten und effizienten Route durchführen. Die großen Transporter, die wir auf der Straße sehen, legen in der Regel etwa 120 Stopps pro Tag ein, und diese sollten so aufeinander folgen, dass die Gesamtroute optimiert wird, auch wenn nicht immer die kürzeste Strecke zurückgelegt werden kann. Es geht darum, den schnellsten, billigsten und kürzesten Weg zu finden, um diese 120 Punkte auf der Karte zu verbinden, wobei Lieferzeiten, Park- oder Zufahrtsbeschränkungen und die Verfügbarkeit der Kunden berücksichtigt werden müssen.

Die Effizienz der letzten Meile ist nicht nur ein mathematisches Problem, sondern auch ein menschliches Problem, da Menschen ─ wie z. B. der Fahrer ─ einen hohen Unsicherheitsfaktor darstellen. Ihre Erfahrung, d. h. ob sie sich in der Gegend auskennen oder ob sie einen schlechten Tag haben, beeinflusst, wie Sie mit anderen Teilnehmern des Mobilitätssystems interagieren und wie Sie eine Strecke bewältigen werden. Obwohl die Unternehmen diese so weit wie möglich optimieren, können unvorhergesehene Ereignisse wie Verkehrsunfälle die Fahrzeitprognosen völlig verändern. Viele dieser Faktoren lassen sich nur schwer oder fast gar nicht kontrollieren. Daher ist es schwierig, mit traditionellen Ansätzen hier eine Lösung zu finden.

Den Kunden ins Zentrum rücken

Wir haben vor etwa zehn Jahren begonnen, die Logistik der letzten Meile in Megastädten zu untersuchen, weil die Prozesse in dicht besiedelten Gebieten komplexer sind. Die dichte Besiedlung trägt wesentlich zur Komplexität der letzten Meile bei, denn die meisten Städte haben eine Größe erreicht, für die sie nicht vorgesehen waren. Sie wurden im Laufe der Geschichte immer größer, jedoch erfolgte keine proportionale Investition in den Ausbau ihrer Verkehrsinfrastruktur. Für die meisten Menschen, die täglich pendeln bzw. für die Güter, die hinein- und herausfahren, sind sie nicht geeignet. Mit dem Wachstum der Städte steigt die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen sowie die Notwendigkeit, Waren und Menschen zu transportieren. Das Ergebnis ist eine erhebliche Zunahme der Verkehrsdichte auf Straßen, die nur sehr schwer ausgebaut werden können, was zu Staus führt.

Das MIT CTL setzt sich dafür ein, die Erfahrungen der Arbeitnehmer in mathematische Modelle einzubeziehen

Die boomende Nachfrage kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf die Logistik der letzten Meile haben. Wenn sich viele Kunden auf ein Stadtgebiet konzentrieren, wären theoretisch kürzere Fahrzeiten für die Auslieferungen möglich. Dadurch müssten die Routen produktiver und effizienter sein. In einem zunehmend überlasteten Straßennetz werden die Fahrten jedoch länger und unvorhersehbarer. Selbst einfache Unfälle können zu schweren Staus führen. Als Folge kann sich die Gesamtproduktivität sowie die Dauer der Strecken verschlechtern, so dass sie weniger vorhersehbar sind als die Strecken in ländlichen Gebieten mit geringer Dichte.

Viele Unternehmen müssen rund 40 % ihrer Logistikkosten für die letzte Meile einkalkulieren

Es werden neue KI-Methoden und Formen des maschinellen Lernens untersucht, denn die Welt entwickelt sich schneller weiter als die traditionellen Ideen. Zudem gibt es einen Trend, die Logistikprozesse an die individuellen Kundenanforderungen anzupassen. Daraus resultiert das hochaktuelle VRP-Problem. Dies erfordert mehr datengestützte Ansätze. Die Modelle und Algorithmen zur Lösung dieser Probleme müssen in der Lage sein, kontinuierlich zu lernen und sich selbst zu aktualisieren, um detailliertere Informationen zu erhalten. Sie müssen ein wachsendes Verständnis für die Merkmale, das Verhalten und die Grenzen entwickeln, die mit jedem Kunden, jeder Strecke und jedem Fahrzeug verbunden sind. Hier haben KI und ML einen einzigartigen Vorteil gegenüber den herkömmlichen Methoden des Operations Research (OR).

In der Regel entfallen 40 % der Logistikkosten eines Unternehmens auf die letzte Meile. Daher ist es notwendig, mit hoher räumlicher und zeitlicher Genauigkeit vorhersagen zu können, wann und wo ein Produkt gekauft wird. So sollte z. B. bekannt sein, wie viele Einheiten einer bestimmten Artikelart in den nächsten 30 Minuten in einem bestimmten Postleitzahlgebiet gekauft werden. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Nachfrageprognosen von modernsten maschinellen Lerntechniken abhängen, um die immer anspruchsvolleren Prognosefähigkeiten der Unternehmen zu erfüllen.

Effizienz mit menschlicher Note

Ziel ist es, Routen zu finden, die nicht nur kurz, wirtschaftlich und schnell, sondern auch effektiv für die Fahrer sind. Es wird darauf geachtet, wie die Fahrer ihre Pläne, die sie morgens erhalten haben, anpassen, denn sie wissen besser als jeder Algorithmus, wo sie sicher parken, wie sie den Verkehr umgehen oder zu welchen Zeiten ihre Kunden am ehesten erreichbar sind. Dieses implizite Wissen, über das jeder Fahrer verfügt, lässt sich weder in der statischen Implementierung eines Optimierungsalgorithmus noch in einer Reihe von Gleichungen kodieren. Durch Beobachtung des tatsächlichen Fahrerverhaltens im Laufe der Zeit könnten wir jedoch geeignetere Strecken finden. Mit einem lernbasierten Ansatz könnte das Wissen erfahrener Fahrer durch die Erkennung von Mustern bei der Ausführung ihrer Routen erfasst werden. Darüber hinaus wäre es möglich, diese kontinuierlich mit neuen realen Daten zu trainieren, z. B. mit vorübergehenden Straßensperrungen oder veränderten Präferenzen. Dies ist der Ansatz für die Routenplanung, den wir weiter untersuchen müssen.

Viele Unternehmen müssen rund 40 % ihrer Logistikkosten für die letzte Meile einkalkulieren

Während früher die Öffentlichkeit als einheitliche Masse behandelt wurde, werden heute individuelle Wünsche und Merkmale der Kunden berücksichtigt. Dazu müssen die Unternehmen spezifischere Informationen von jeder Haltestelle erfassen, die von so signifikanten Aspekten wie der Art des Gebäudes abhängen, in dem sich der Nutzer befindet. Vor einigen Jahren wurden Zeitfenster angeboten, und die Kunden konnten wählen, wann sie das Paket erhalten wollten. Heute wird erwartet, dass der Logistikprozess die Verfügbarkeit und die Präferenzen jedes Einzelnen antizipiert. Da High-End-Dienste wie die Zustellung am selben Tag immer häufiger angeboten werden, muss auch ein größerer Teil der Bevölkerung Zugang dazu haben, auch diejenigen, die nicht in großen städtischen Zentren wohnen.

Die gesamte Bevölkerung braucht einen besseren Zugang zu hochwertigen Dienstleistungen, wie die Lieferung am selben Tag

Die Qualität und Geschwindigkeit, die moderne Systeme bieten, waren vor einigen Jahren noch unvorstellbar. Neben diesen Vorteilen gibt es weitere Verbesserungen, die mit der Nachhaltigkeit zusammenhängen. Logistik und Transport gehören zu den Hauptverursachern von Kohlenstoffemissionen und damit des Klimawandels. Ohne eine Dekarbonisierung dieser Branche wird es nicht möglich sein, das Worst-Case-Szenario einzudämmen. Wir gehen davon aus, neue Methoden und Innovationen im MIT-Labor für intelligente Logistiksysteme entwickeln zu können. Nur so wird die Branche in der Lage sein, die ehrgeizigen Dekarbonisierungsziele zu erreichen, die erforderlich sind, um etwas zu bewirken.

Forschung mit hybriden Methoden

Wir sehen ein enormes Potenzial in der Anwendung hybrider Methoden, die das Beste aus beiden Welten vereinen, d. h. die Verbindung von traditionellem Operations Research mit Techniken des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz. Am MIT wollen wir unsere Forschungsaktivitäten zu diesen Methoden und ihren Anwendungen in dem neu geschaffenen Intelligent Logistics Lab bündeln. Unser Ziel ist es, eine zukünftige Generation von Logistiksystemen zu konzipieren. Diese Generation soll Dienstleistungen ermöglichen, die heute nur in unserer Vorstellung existieren, jedoch in den kommenden Jahren Realität werden.

Die neuesten Trends erfordern die Entwicklung intelligenterer und flexiblerer Lösungen, um auf die Veränderungen im sozioökonomischen und geopolitischen Umfeld zu reagieren. In Mecalux haben wir dafür einen Partner gefunden, der wirklich an diese Methoden glaubt. Wir müssen das Wissen vieler Menschen, die tagtäglich in der Branche tätig sind, nutzen und daraus lernen, seien es Fahrer, Lagermitarbeiter oder Supply-Chain-Manager mit 40 Jahren Erfahrung. Wir müssen diese Fähigkeiten ausbauen und in quantitative Modelle einfließen lassen. Das Ziel ist, die zunehmend komplexeren Probleme der Industrie schnell und in großem Maßstab lösen zu können.

 


 

AUTOR DER ANALYSE:

Matthias Winkenbach, Director of Research des MIT Center for Transportation & Logistics MATTHIAS WINKENBACH
Principal Research Scientist und Director of Research des MIT Center for Transportation & Logistics. Zudem ist er Gründer und Leiter mehrerer Forschungsgruppen, darunter das Intelligent Logistics Systems Lab, eine bahnbrechende Initiative zur Revolutionierung der Logistikabläufe, die von Mecalux unterstützt wird.

 


 

Referenzen:

Dantzig, G. B., and J. H. Ramser. 1959. The Truck Dispatching Problem. Management Science 6 (1): 80–91.