Der Unternehmergeist der Supply Chain Manager

17 Jun 2024
Die Anerkennung der Rolle der Lieferkette bei Innovationen führt zu Erfolgen für Unternehmen

LOGISTIKFORSCHUNG
Von Thomas J. Goldsby, Michael G. Goldsby und Donald F. Kuratko

Entrepreneurship wird oft als Kombination vorhandener Ressourcen zur Nutzung neuer Chancen im Rahmen eines kreativen Prozesses bezeichnet. Unter Supply Chain Management versteht man hingegen den Prozess der Planung, Umsetzung und Kontrolle von Abläufen zur bestmöglichen Kundenzufriedenheit. Beide haben in den letzten drei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen und stellen in gewisser Weise die grundlegenden Mittel zur Schaffung von Wachstum und Marktwert dar.

Warum also arbeiten Vertreter beider Disziplinen nicht häufiger zusammen? Eine Erklärung ist ihre scheinbar unterschiedliche Risikoeinschätzung. Von Unternehmern wird eine viel höhere Toleranz und sogar eine gewisse Risikobereitschaft erwartet. Im Gegensatz dazu sind Supply Chain Manager für ihre Risikoaversion bekannt. Wie die Covid-19-Pandemie jedoch gezeigt hat, wurden Unternehmen und Lieferketten, die Risiken zur Steigerung der Agilität ihrer Prozesse eingingen, belohnt.

Können Suppy Chain Manager vom unternehmerischen Denken und Handeln lernen?

Im heutigen volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen (englisch: VUCA) Geschäftsumfeld sollten Unternehmen eine unternehmerische Denkweise der am Supply Chain Management beteiligten Mitarbeiter fördern, um neue Tätigkeitsfelder zu erschließen und dadurch Alternativen in Bezug auf Design, Inputs, Prozesse, Geschäftsbeziehungen und Ergebnisse zu entwickeln. Um diese Prämisse zu untermauern, verwenden wir das von Kuratko et al. entwickelte und seit Jahren als Diagnoseinstrument eingesetzte Corporate Entrepreneurship Assessment Instrument (CEAI). Hierbei handelt es sich um ein Instrument zur Bewertung des unternehmerischen Denkens und Handelns. Wir haben die CEAI-Skala für die Anwendung im Lieferkettenmanagement angepasst - CEAI-SCM - mit dem Ziel, Supply Chain Managern unternehmerisches Denken und Handeln zu vermitteln.

Innovation in der Lieferkette

Wenn es um die Entwicklung von Strategien zur Verfolgung neuer Wachstumschancen innerhalb bestehender Organisationen geht, unterstützt Corporate Entrepreneurship (CE) die Bemühungen um Innovation, Risikobereitschaft und Planung von neu entstehenden Start-ups. Die Größe, das Erbe, der Auftrag und die Verpflichtung zur Compliance etablierter Marken können jedoch ein Hindernis darstellen, dem sich Start-ups nicht stellen müssen. Aus diesem Grund nimmt CE zu, wenn die Unternehmensleitung Manager dabei unterstützt und dafür anerkennt, neue Geschäftsbereiche zu erkunden und zu entwickeln.

Das Lieferkettenmanagement ermutigt jedoch selten zu visionärem Denken, und Nonkonformismus ist in der Branche nicht immer gern gesehen. Supply-Chain-Experten verwenden häufig Kennzahlen, die sich auf den Kundenservice, die betriebliche Effizienz, die Kostensenkung, die Nutzung der Aktiva und sogar die Nachhaltigkeit beziehen. Sicherlich handelt sich es hierbei um kritische Dimensionen. Dennoch wird sowohl der Beitrag der Lieferkette zum Umsatzwachstum als auch ihr Potenzial für die Kundengewinnung, insbesondere auf neuen Märkten, außer Acht gelassen.

Corporate Entrepreneurship nimmt zu, wenn Führungskräfte mittlere Manager unterstützen

Doch Lieferketten können Innovationstreiber sein. Zunächst einmal ist in vielen Unternehmen eine große Zahl von Mitarbeitern beteiligt. Das bedeutet, dass viele Köpfe das Produkt- und Dienstleistungsportfolio des Unternehmens sowie seine Marktaussichten kennen. Sie wissen, was sich verkauft und was nicht, welche Möglichkeiten und Grenzen das Unternehmen hat und wie die Produkte hergestellt und bewegt werden. Die sogenannte Supply-Chain-Orientierung ist ein Konzept mit Änderungspotenzial sowohl für etablierte Unternehmen als auch für Start-Ups.

Erfolgsbeispiele aus der Wirtschaft

Die Geschichte dient als Beweis für den Erfolg von Führungskräften und Organisationen, die die wesentliche Rolle der Lieferkette in Innovationsprozessen anerkennen und unterstützen. Beispiele dafür sind das iPhone und das Gorilla-Glas. Als Steve Jobs Smartphones als interaktivere Telefone mit mehr Platz für visuelle Elemente neu konzipierte, stand er vor der Herausforderung, für diese neuen Geräte ein ausreichend stabiles Touchscreen zu entwickeln.

Jobs erkannte, dass Cornings Gorilla-Glass ein entscheidender Vorteil für das iPhone sein würde, da es Stürze übersteht und dabei seine hohe elektrische Leitfähigkeit beibehält. Das Problem war, dass Corning weder die Kapazität noch die Absicht hatte, Apples Anforderungen zu erfüllen. Jobs flog nach New York, um Wendell Weeks, dem CEO von Corning, in die Augen zu sehen und zu sagen: „Ja, Sie können es schaffen.“ „Überlegen Sie es sich, Sie können es schaffen.“ Als Weeks diese Geschichte enthüllte, erkärte er, dass es ihnen in nur sechs Monaten gelungen sei, ein Glas zu entwickeln, das noch nie zuvor hergestellt worden war. Apple profitiert bis heute von den Produkten, die Jobs und sein Nachfolger Tim Cook vor mehr als einem Jahrzehnt entwickelt haben und erzielt auf der Grundlage dieser Errungenschaften weiterhin Gewinne.

Ähnlich verlief es bei Coca-Cola. Anfang der 2000er Jahre wurden kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke von den Verbrauchern, den Medien und den Aufsichtsbehörden kritisch begutachtet, daher musste das Unternehmen seine Innovationskraft stärken. Dann sah einer der Führungskräfte eine Cargill-Werbung mit der Aufschrift „Zusammenarbeiten, Neues schaffen, Erfolg haben - so arbeitet Cargill mit seinen Kunden.“ Das Unternehmen hatte gerade Stevia rebaudiana, ein Extrakt aus Steviablättern, entdeckt. Es war ganz natürlich, sehr süß und kalorienfrei. Allerdings entstand beim Verzehr ein bitterer Nachgeschmack, den das Unternehmen zunächst nicht beseitigen konnte. Nachdem sie das Problem erörtert hatten, machten sich beide Konzerne daran, den bitteren Geschmack zu beseitigen, und schickten Lebensmittelwissenschaftler beider Unternehmen in die Labors des jeweils anderen. Schließlich wurde das Problem behoben, und Coca-Cola und Cargill schlossen einen Exklusivvertrag über die Verwendung von Stevia rebaudiana.

Die Rolle der agilen Lieferketten

Agilität in der Lieferkette wird als die Fähigkeit eines Unternehmens, seine Taktiken und Abläufe schnell anzupassen, definiert. Vor der Pandemie wurde diese Fähigkeit als eine Art Luxus angesehen. Es bedarf Agilität, Belastbarkeit, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Improvisation, um eine entsprechende Reaktionsfähigkeit zu entwickeln. Und im Mittelpunkt dieser Fähigkeiten steht der Wandel - ein Begriff, der den meisten Supply-Chain-Management-Experten aufgrund der damit verbundenen Risiken Schwierigkeiten bereitet. McKinsey stellt fest, dass Vertreter des mittleren Managements anderer Branchen ebenfalls risikoscheu sind. Diese Experten haben bereits Erfahrung darin, die Unternehmensleistung zu steigern, ohne ihre Existenz zu gefährden oder massive finanzielle Probleme zu verursachen.

Sowohl technologische Entwicklungen als auch Managementmethoden und -praktiken müssen berücksichtigt werden

Lieferketten spielen eine wesentliche Rolle für den Erfolg oder Misserfolg neuer Produkte, Dienstleistungen und Prozesse. Führungskräfte konzentrieren sich jedoch mehr auf die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, während Beschaffung und Vertrieb nur eine untergeordnete Rolle spielen. Studien zum Corporate Entrepreneurship (CE) zeigen, dass unternehmerisches Denken und Handeln individuell gesteuert wird, jedoch in hohem Maße davon abhängt, ob Unternehmen ein günstiges Umfeld dafür schaffen. Fulop bekräftigte, dass mittlere Führungskräfte für die erfolgreiche Umsetzung von CE entscheidend seien. Eine funktionsübergreifende Interaktion mit mittleren Führungskräften anderer Abteilungen, die über die Grenzen der Lieferkette hinausgeht, könne der Schlüssel zur Innovation sein. Letztlich gibt es historisch gesehen viele Beispiele von mittleren Managern und Angestellten, die ihre eigenen Unternehmen gründeten, weil ihre Ideen seitens der Führungskräfte unberücksichtigt blieben.

Ergebnisse der CEAI-Skala

Die Anwendung des Instruments zur Bewertung des unternehmerischen Denkens und Handelns in der Lieferkette (IEEC-GSC) anhand von 48 Likert-Skalen ergab, dass das unternehmerische Denken und Handeln im mittleren Management durch fünf Kriterien gefördert wird.

Fünf Kriterien, die unternehmerisches Denken und Handeln fördern

  • Unterstützung durch das Management. Die Bereitschaft der Unternehmensleitung, unternehmerische Initiative zu fördern und die dafür erforderlichen Mittel bereitzustellen.
  • Autonomie des Arbeitnehmers. Die Bereitschaft der Führungskräfte, Befugnisse und Verantwortung zu delegieren und eventuelle Misserfolge zu tolerieren.
  • Belohnungen / Verstärkung. Anerkennung von Leistungen und bedeutenden Erfolgen.
  • Zeitliche Verfügbarkeit. Die Arbeitsbelastung so aufteilen, dass genügend Zeit für die Gestaltung bleibt.
  • Grenzen hinsichtlich der Erwartungshaltung setzen. Präzise Erläuterungen zu den erwarteten Ergebnissen geben und Mechanismen zur Bewertung, Auswahl und Nutzung von Innovationen entwickeln.

Wie entwickelt man ein unternehmerisches Denken und Handeln?

Bestimmte Forschungsansätze zielen darauf ab, Unternehmertum und Supply Chain Management gleichzeitig zu fördern. Es geht darum, für Arbeitsabläufe, die unerlässlich sind, damit ein Produkt oder eine Ware den Endkunden erreicht, neue Vorgehensweisen zu finden. Zu den Technologien, die das Potenzial dafür haben, gehören digitale Plattformen, künstliche Intelligenz und 3D-Druck. Aber auch nicht-technologische Trends verdienen Beachtung. Dazu gehören Innovationen bei Managementmethoden und -praktiken wie Zusammenarbeit, Digitalisierung und operative Exzellenz (Operational Excellence/OPEX).

Abschließend kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, in allen Organisationen unternehmerisches Denken und Handeln zu fördern. Bietet sich die Möglichkeit, mehr Kunden auf neuen Wegen zu erreichen, dient das Supply Chain Management als Unterstützung und bei der Identifikation dieser Marktchancen auch häufig als Initiator.

 


 

AUTOREN DER STUDIE:

Thomas J. Goldsby THOMAS J. GOLDSBY
Dee und Jim Haslam Lehrstuhl für Logistik und Professor für Lieferkettenmanagement am Haslam College of Business an der University of Tennessee-Knoxville (Vereinigten Staaten).
Donald F. Kuratko DONALD F. KURATKO
Jack M. Gill Lehrstuhl für Entrepreneurship, Professor für Entrepreneurship sowie geschäftsführender und akademischer Direktor des Johnson Center for Entrepreneurship & Innovation an der Kelley School of Business der Indiana University Bloomington (Vereinigten Staaten).
Michael G. Goldsby MICHAEL G. GOLDSBY
Leiter für Unternehmertum, Mitbegründer des Entrepreneurial Leadership Institute, Stoops Distinguished Professor für Entrepreneurship, Professor für Management und Emeritierter Direktor des Entrepreneurship-Programms und -Zentrums an der Ball State University (Vereinigten Staaten).

 


 

Originalveröffentlichung: Goldsby, Thomas J., Kuratko, Donald F., Goldsby, Michael G. 2024. Developing an entrepreneurial mindset in supply chain managers: Exposing a powerful potential, in Journal of Business Logistics, volume 45, issue 2 (Wiley).